Wie klingt ein ganzes Leben?
Mit Abdullah Ibrahim eröffnet ein Musiker die 46. Leipziger Jazztage, dessen Namen man fett auf die Plakate drucken kann. Der südafrikanische Pianist vereint über 70 Jahre Musikkarriere und spielte mit den Großen seiner Zeit. Auf der Bühne der Leipziger Oper gibt er ein Solokonzert.
Abdullah Ibrahim, der zwei Wochen zuvor noch 88 Jahre alt geworden ist, wird von einem Begleiter vor das Opernpublikum geführt. Nachdem dieser hinter den Vorhängen verschwunden ist, ist der Künstler mit dem Steinway-Flügel auf der Bühne allein. Er fängt an zu spielen, füllt den Raum mit seinem Klang und seiner Lebensgeschichte und hört für die nächste Stunde nicht mehr auf.
Das Spiel Ibrahims erzählt an diesem Abend von einem Leben in der Musik. In seiner einstündigen Improvisation verarbeitet der Künstler Boogie-artige Rhythmen, komplizierte Läufe, breit gelegte Melodien und eigene Stücke. Jeder musikalischen Idee wird mit Pausen Raum gegeben, in denen der Künstler für einige Sekunden ein oder beide Hände auf den Beinen ablegt. Die Töne finden Zeit sich zu entfalten, die Ideen hallen nach. So werden auch schnellere Passagen nie hektisch, es dominieren Ruhe und Reflektion. Der rege Wechsel der Passagen kann mittweilen anstrengen, denn das Ohr, welches Halt sucht, muss sich nach jeder Idee neu einstellen. Eine Verschnaufpause erhält das Publikum, als die Improvisation zu Ibrahims Stück „Blue Bolero“ führt. Und wie schön diese Pause ist: Die Melodie ist klar, gibt Orientierung und Sicherheit. Die einzelnen Töne werden derart andächtig gesetzt, dass es weh tut, zuzuhören. Die linke Hand lässt der Rechten Raum, die Rechte spielt direkt ins Herz, während der fragende Klang Ibrahims in den Pausen nicht leiser, sondern lauter zu werden scheint.
Nach dem Stück wird die Improvisation schneller, die zuvor noch dominanten Pausen treten etwas in den Hintergrund. Der Kontrast scheint vorzubereiten, was folgt. Als Ibrahim gegen Ende ein drittes Mal „Blue Bolero“ anspielt, ist das Ohr bereits an die Melodie gewöhnt. Doch das Motiv klingt diesmal anders: Es klingt nach Heimkehr, es klingt nach einer Mutter, welche die Kinder vom Spielen hereinruft. Es klingt, als wäre am Ende eines hektischen und wechselhaften Lebens etwas Ruhe eingekehrt.
Standing Ovation. Das Publikum applaudiert der Leistung und dem Lebenswerk des Künstlers, der den gesamten Abend kein einziges Wort spricht. Ibrahim antwortet mit andächtig vor der Brust zusammengeführten Händen und gibt mit erhobenem Zeigefinger zu verstehen, dass eine Zugabe folgt.
Nach der Zugabe, einem kurzen Stück, wird Ibrahim unter Applaus von der Bühne geführt. Ein paar Schritte vom Klavier entfernt bleibt der Künstler stehen und wendet sich ein letztes Mal zum Publikum. Dann fängt Ibrahim an zu singen. Mit geschlossenen Augen und einer Hand an der Wange singt der Künstler einen Spiritual, während das für den Applaus aufgestandene Publikum wie in Schockstarre stehen bleibt. Der Moment ist echt, die Stimme nicht so perfekt wie sein Klavierspiel. Der Mann, der während der Apartheid in Südafrika aufgewachsen ist, der über 30 Jahre im Exil lebte, dessen Vater ermordet wurde, singt: „And the day, when I came back, to the land, where I was born, there was no one to welcome me home“.
Abdullah Ibrahim hinterlässt einen tiefen Eindruck, der den Moment und Abend lange überdauern wird.