Dave Holland: Sechs Tracks aus sieben Jahren

Wer kennt es nicht: Beim routinierten Scrollen und Klicken stößt man auf einen der vielen Big Names der Musikgeschichte, weiß aber im Angesicht einer geradezu erschlagenden Diskographie zunächst nicht so recht, wie man sich dieser nähern soll. So könnte es auch vielen mit dem britischen Kontrabassisten Dave Holland gehen, der einst mit Miles Davis und Herbie Hancock spielte und den vielstrapazierten Begriff der Jazz-Legende zweifellos verdient innehat. An über 170 Alben hat Holland im Laufe seiner Karriere mitgewirkt. Was also tun – flüchten? Mitnichten. Unser Autor Jakob Obleser hat sich durch das Frühwerk des Musikers gehört und verschafft uns anlässlich seines bevorstehenden Konzertes am 16. Oktober im UT Connewitz mit sechs exklusiv ausgewählten Tracks Orientierung in Hollands Werk-Dickicht.
- Beans (aus dem Album »Music from Two Basses«)
»Beans« ist der dritte Track des Albums »Music from Two Basses«. Es wurde im Februar 1971 im Tonstudio Bauer, Ludwigsburg aufgenommen und erschien als elfte LP des damals nicht mal zwei Jahre alten Labels ECM Records. Dave Holland und Barre Phillips bauen innerhalb von drei Minuten ein beeindruckendes Soundgebilde, in dem die zwei Bässe zunächst im sprunghaften, obertonkratzenden Dialog um Aufmerksamkeit ringen. Während auf der Hintergrundebene die Begleitspur aus langen Tönen intensiver wird, verflüchtigen sich die Aktionen der Bässe wie in die Tiefen einer Kathedrale. Die Arbeit mit Overdubs und Kontrabässen zeigt die Innovation und Kreativität der beiden Musiker sowie des Labels und dessen Produzenten Manfred Eicher, der mit diesem Album ein frühes Ausrufezeichen hinsichtlich der weiteren Entwicklung von ECM setzt.
2. Ha-Ho-Da (aus dem Album »Child of Gemini«)
Das Album »Child of Gemini« von Sir Roland Hanna wurde in derselben Woche wie »Music From Two Basses« aufgenommen, ebenfalls in einem berühmten Studio in Süddeutschland, MPS. Auf »Ha-Ho-Da« begleitet Dave Holland den etablierten Pianisten, der seinerseits unter anderem mit Charles Mingus und dem Thad Jones/Mel Lewis-Orchestra spielte, über die klassische zwölf-taktige Bluesform. Seine Basslinie walkt stabil und harmonisch interaktiv hinter den Blues- und Bop-Botschaften Hannas. Der Drive der Begleitung wird von dem für diese Ära typischen, von Tonabnehmern und Verstärkern geprägten, knurrenden Kontrabasssound verstärkt. Im Basssolo zeigt sich Holland unaufgeregt und doch mitreißend, wenn er moderne, technisch expressivere Ausflüge über das gesamte Griffbrett mit dem Vokabular seiner Vorgänger und -bilder verbindet.
3. Conference of the Birds (aus dem Album » Conference of the Birds«)
»Conference of the Birds« erschien 1973 als Dave Hollands erstes Album als alleiniger Leader einer Band. Der Titelsong ist Zeugnis von Hollands kompositorischen Fähigkeiten. Inspiriert von Sufi-Dichtung und dem morgendlichen Vogelkonzert vor seiner Londoner Wohnung, überträgt Holland die darin mitschwingende Freiheit spielerisch auf seinen Kontrabass und seine Mitspieler Anthony Braxton, Sam Rivers und Barry Altschul. Flöte und Sopransaxofon schwelgen über der sich wiederholenden kurzen Form des Stücks, während Holland am Bass seine Begleitung stets variiert – die eigentliche Lebensader und der Ankerpunkt dieses Quartetts und eines Albums, das in seiner Aussage über Musik und Interaktion besonders deutlich ist.
4. Sauerkraut ’n Solar Energy (aus dem Album » Norman Blake / Tut Taylor / Sam Bush / Butch Robins / Vassar Clements / David Holland / Jethro Burns«)
Eher unbekannt ist Dave Hollands Arbeit mit wichtigen Bluegrass-Musikern seiner Zeit, unter anderem Norman Blake und Vassar Clements, die laut Holland durch eine zufällige Begegnung beim Einkaufen begann. Holland eröffnet den Track »Sauerkraut ’n Solar Energy« mit einem bluesigen Solo, das seine Präzision und rhythmische Prägnanz hervorhebt. Seine stets scharfe, aber fließende Phrasierung fügt sich nahtlos ins perkussive Spiel seiner Kollegen an Gitarre, Geige und Banjo. Welche konkrete Utopie die Musiker in diesem Titel bespielen, wird nicht ganz deutlich – doch in jedem Fall stehen Ausgelassenheit und Miteinander im Zentrum dieses inspirierten Jams von 1974.
5. Shockwave (aus dem Album »Waves«)
Während sich Herbie Hancock und Chick Corea, zwei ehemalige Kollegen aus den Bands von Miles Davis, in den frühen 1970er-Jahren mit den Headhunters und Return to Forever einem rockigeren und kommerzielleren Sound zuwandten, ging Dave Holland einen anderen Weg: Er widmete sich ausgiebig dem freien Spiel mit einem der führenden Avantgardisten der Zeit, Sam Rivers. Die Zusammenarbeit der beiden umfasst mehrere Alben und zahlreiche Auftritte in verschiedenen Besetzungen. Beispielhaft steht hier »Shockwave« vom 1978 erschienenen Album »Waves«. Dave Holland lässt sich mühelos von Sam Rivers‘ atonalem, frei gestikulierendem Klavierspiel ziehen und trägt im nächsten Abschnitt mit rasanten, sich nicht erschöpfenden Basslinien die Improvisation von Tuba und Saxofon auf seinen Schultern. In einem Interview schätzt Dave Holland die Offenheit in den Bands mit Rivers und betont die intuitive Entwicklung der gemeinsamen musikalischen Sprache und Struktur bei längerer, regelmäßiger Zusammenarbeit.
6. Combination (aus dem Album »Emerald Tears«)
Am Ende dieser Liste steht »Combination« von Dave Hollands erstem Soloalbum für ECM: »Emerald Tears«, 1978. Im Mittelpunkt dieses hervorragend aufgenommenen Tracks steht Hollands Virtuosität am Bogen. Ohne Zögern folgt er seinem inneren Ideenfluss und ist in der Lage, seine tonalen Wege durch exzellente Technik und Klarheit verständlich zu präsentieren. Sein Bass klingt warm und holzig und die Leichtigkeit, mit der er dieses sperrige Instrument beherrscht, ist geradezu ansteckend. Schon die ersten Aktionen ziehen die Aufmerksamkeit der Zuhörenden auf sich und halten sie durch eine Ausgewogenheit von Ideen und Pausen bis zum Schluss.
Dave Hollands Werk führt sich fort mit zahlreichen Veröffentlichungen als Leader von Bands in allen Größen – von Duo bis Bigbands. Kein Album klingt gleich. Hollands Streben nach Weiterentwicklung sowie seine inspirierte Produktivität sind offensichtlich. Wenn er mit Jaleel Shaw und Nasheet Waits im Rahmen der Leipziger Jazztagen auf der Bühne steht, werden Anklänge aus seiner frühen und stilbildenden Phase immer noch zu hören sein.
Jakob Obleser