Laut & Leipzig – der Blog der Leipziger Jazztage.

7 Dinge, die ich in Leipzig gelernt habe

Tape Loop Workshop by Susann Jehnichen
Tape Loop Workshop by Susann Jehnichen

Wer rund um die Jazztage die Stadt durchquert, kann was erleben: Disharmonisches, Würziges, Streberhaftes. Ein Rückblick auf sieben Tage Festival.

Der alte Mann beugt sich über seinen Laptop und gibt eine kurze Tonsequenz wieder: „It’s interesting because it’s ugly“, sagt Morton Subotnick, der Synthesizer-Pionier, über eines seiner ersten Werke.

Unverschämt, diesen polemischen Satz auf ein ganzes Festival anzuwenden, aber: vieles bei den Leipziger Jazztagen ist hässlich, sperrig, kakophonisch, überlaut und anstrengend. Und gerade deshalb: interessant. 

Sieben von acht Tagen war ich bei den diesjährigen Jazztagen unterwegs, auf der Suche nach musikalischer Erleuchtung, inspirierenden Treffen und dem besten Kaffee.

Was ich dabei gelernt habe?

1. Räucherstäbchen sind nicht nur für Hippies

Ein würziger Geruch hängt in den Gängen des UT Connewitz. Es duftet auch nach Räucherstäbchen, als ein Mann die Bühne betritt, der nach einem Propheten benannt wurde. Jesaja kündigte einen Messias an. Isaiah Collier kündet dagegen von John Coltrane, von dessen modalem Jazz, von den stetig anschwellenden, nie enden wollenden Soli, von einer Ekstase, die man spüren kann, ohne je vorher Jazz gehört zu haben. Für Coltrane war das Spiel ein Gebet, für den Mittzwanziger Collier ist es mehr: er möchte auch vom Schmerz aller Nachfahren von Sklaven erzählen

Ich ertappe mich dabei, wegzunicken: das 15-minütige Basssolo wirkt intensiver auf mich als jede Meditations-App. Sobald Colliers Saxophon wieder gellend aufjault, bin ich wieder da. Ein forderndes, fulminantes Konzert.

2. Das Beste kommt zum Schluss

2.1 Abdullah Ibrahim ist schon fast schon weg, da legt der Pianist die Hand an die rechte Wange und beginnt zu singen. In seinen leisen Sermon mischt sich südafrikanische Folklore und US-amerikanischer Gospel. Das emotionale Ende eines anrührenden Konzertes. Ibrahim hat nicht mehr die Kraft und Virtuosität von einst, als er mit Duke Ellington tourte. Aber in seinen Songs schwingt noch immer die Melancholie des Vertriebenen mit, der sich nach der Heimat sehnt.

2.2 A Novel of Anomaly sind eine Band, die vor Kraft nur so strotzt.  Schlagzeuger Lucas Niggli beherrscht jede Taktart des Planeten, Luciano Biondini kann melodisch solieren oder rhythmisch explodieren, Kalle Kalima hat auf der Gitarre alles drauf, was nach dem Blues kam. Andreas Schaerer ist ohnehin immer ein Erlebnis, und überzeugt nicht nur als Beatboxer und Sänger, sondern auch als selbstironischer Entertainer.

Das alles wirkt zuweilen streberhaft. Was für ein Glück, dass der kongolesische Gitarrist Kojack Kossakamvwe als Zugabe für zwei Songs zu dem Quartett stößt. Plötzlich wirkt alles ganz locker. Heftig groovende afrikanische Polyrhythmik erhitzt das Stadtbad, das Publikum springt auf. Es wird sogar getanzt. Elektrisierend, nur leider zu kurz.

3. Improvisation ist Mist

3.1 Das elektroakustische Quintett Tau 5 spielt ein enervierend disharmonisches Late Night Set. Ich kann dazu kein endgültiges Urteil abgeben, weil ich nach 15 Minuten das Weite suche. Die Töne, die Ludwig Wandinger an  Electronics/Laptop produziert, sind zu hochfrequent für meine Ohren. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Konzept der Band ist, sich selbst minimaler Verträglichkeit zu verweigern – und stattdessen durch Lautstärke und ständige Tempowechsel Eindruck zu schinden.

3.2 Angeregte Diskussion in der Moritzbastei: es geht um „Klassismus im Jazz“. Ein Sextett um die großartigen Musiker Philipp Gropper und Elias Stemeseder begleitet das Panel, das sich einig ist: Barrieren müssen abgebaut, der Jazz soll auch für Nicht-Akademiker zugänglich werden. Ironie, dass die Musik der sechs so lärmig ist, dass sie jeden Genre-Fremden sofort vertreiben muss? Die Bandmitglieder scheinen hier nur auf sich selbst zu achten.

4. Improvisation ist großartig

Siehe 1, 2.1 und 2.2

5. Identität ist eine komplexe Sache

5.1 Der Schlachtruf des Widerstands erklingt im Ost-Passage-Theater. Mit „Jin Jiyan Azadi!“ beenden Tanasgol Sabbagh und Reza Askari ihre Performance, jedes Konzert widmen sie derzeit den Protestierenden im Iran. Sabbagh hat eine vielstimmige Lesung absolviert; nicht alles ist sofort verständlich, aber durch Sprachnachrichten, Dialoge mit ihrer Familie und mit Askari (der währenddessen ungerührt weiter Bass spielt) entsteht langsam das Bild eines komplexen Lebens, das mit „Flüchtlingsbiographie“ nicht annähernd adäquat beschrieben wäre. Tief berührend.

5.2. Die Eisenbahnstraße ist durchaus hübsch

Leipzigs ehemalige Waffenverbotszone hat seit Jahrzehnten einen schlechten Ruf. Die Seite Tag24 hat eine eigene, gut gepflegte Tag-Sammlung unter „Eisenbahnstraße Leipzig“. „Auto kracht in Tram“ ist hier noch die positivste Meldung. Fünf Stadtteile durchquert die 2,2 Kilometer lange Straße, und führt dabei auch am wunderschönen, ehemaligen Kino Ost-Passage-Theater vorbei. Und am Vary, einem fein sortierten Plattenladen, der obendrein auch als schickes Café fungiert. 

6. Eingängigkeit bedeutet nicht Oberflächlichkeit

Ob Nils Kugelmann Trio, Nubya Garcia oder Trio Amore: sie alle sind im Pop mindestens ebenso zuhause wie in vermeintlich anspruchsvolleren Genres. Bewegen kann man sich dazu hervorragend, auch wenn Garcia dies in der Oper vergeblich einfordert. Nils Kugelmanns furioser Power-Jazz mit Rock-Elementen ist für mich die Entdeckung des Festivals.

7. Acht Tage sind einer zu viel

Ich kann mich kaum beschweren – anders als das Festival-Team litt ich nicht an kurzen Nächten und Handy-Dauerbrummen. Aber selbst mir als Gast wurde das Konzert-Überangebot nach vier, fünf Tagen zu viel. Warum nicht zwischendurch eine Pause einlegen? Ein Ruhetag in der Mitte der Festivalwoche würde dem Organisationsteam eine Auszeit verschaffen. Für die eigens angereisten Besucher könnte es kleine Panels oder Workshops geben – oder man mutet ihnen zu, einen Tag lang die herrlichen Kaffeehäuser, Museen und Parks der Stadt zu frequentieren.

Fazit:

„Ugly“ – das waren die Leipziger Jazztage in der 46. Ausgabe. Aber sie waren auch: erschütternd, versonnen, ohrenzerfetzend, ermüdend, berauschend, enervierend,  bereichernd. Den besten Kaffee gibt es übrigens im Café Tunichtgut und im Cafe Maitre.

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