Thema
TALKIN ’BOUT MY GENERATION tradition und wandel
Wir sind ein Festival mit Tradition, das sich der Präsentation zeitgenössischer Musik verschrieben hat — und das seit 46 Jahren.
Von einst jungen Menschen zu DDR-Zeiten ins Leben gerufen, hat das Veranstaltungsformat verschiedene Systemwechsel und Zeitenwenden überdauert. Heute wird es von einem Verein und Organisationsteam getragen, welches bald vier Generationen vereint. Verortet ist dieses Gebilde in einer Stadtgesellschaft, welche ebenfalls nicht erstarrt die Zeiten überdauert, sondern in den letzten Jahrzehnten einen enormen Wandel erfahren hat. Nicht zuletzt geprägt durch den Zuzug vieler junger Menschen aus der ganzen Republik.
Für die Gestaltung einer gemeinsamen Sache bedeutet das vor allem eins: es kommen Menschen zusammen, die zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes erfahren haben und demnach über verschiedene Perspektiven verfügen. Verschiedene Perspektiven auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Ergebnis ist ein enormer Erfahrungsschatz, der uns sehr reich macht, aber gleichzeitig auch Fragen der Vermittlung und Begegnung aufwirft.
Der gemeinsame Nenner ist in unserem Fall die Faszination für Musik und nicht nur irgendeiner Musik, sondern des einzigartigen Phänomens ‚Jazz‘. Einzigartig vielleicht auch deshalb, weil es seiner künstlerischen Logik inhärent ist, dass es sich beständig umformt: mit Blick auf die musikalische Tradition wie auch in Relation zur gesellschaftlichen Umgebung gewinnt es an neuer Gestalt und strebt zugleich danach, diese schon wieder zu überwinden. Zur genannten Multiperspektivität kommt also ein Gegenstand der direkt wieder durch die Finger rinnt, versucht man ihn zu greifen.
Die Komplexitätsleiter noch eine Stufe höher kletternd, stellten wir uns die Frage: Was wäre spannender als sich genau mit den Mitteln des ‚Jazz‘ dieser intergenerationalen Gemengelage künstlerisch zu widmen? Sich gemeinsam zu erinnern, Gegenwart zu analysieren und Zukunft zu prognostizieren? In intergenerationaler Einstimmigkeit kamen wir zu dem Ergebnis: nichts. Und so stehen die 46. Leipziger Jazztage unter dem Titel »Talkin ’bout my generation«.
Neben renommierten Urgesteinen des Jazz und aktuellen Entwicklungen der internationalen Jazzszene, werden wir Nachwuchsbands mit Mitgliedern zu hören bekommen, die aus allen Himmelsrichtungen in die Stadt strömen. Millenials – am Rande des ‚nun wirklich erwachsen sein‘ – setzen sich mit der musikalischen Sozialisation durch ihre Eltern-Generationen in West- und Ost-Deutschland auseinander, reflektieren die Migrationsbiografie ihrer Familie oder fragen sich, was ihre Generation zwischen Drang nach Unabhängigkeit, Flexibilität und Hang zu Angstzuständen eigentlich so bewegt.
Ein Ensemble junger Musiker*innen spielt eine Hommage an ihren Synthesizer-Helden Morton Subotnick, während man sich in einem ‚Tape-Loop‘-Workshop dem Medium Kassette nochmal ganz neu annähern kann. In unserer Reihe ‚First Dates‘ stehen Musiker*innen verschiedener Generationen zum ersten Mal zusammen auf der Bühne und feiern gemeinsam mit dem Publikum die Freude am Risiko des möglichen Scheiterns im Angesicht des spontanen aufeinander Einlassens. Um die strapazierten Nerven dann auch wieder zu beruhigen, werden uns ‚Healing Sounds‘ und schlagerähnlich anmutende Klänge zwischendurch sanft einhüllen.
Und noch ein Spoiler-Alarm zum Schluss: wie ihr vielleicht schon ahntet, ist es leider nicht so einfach, dass trennende Linien sich immer nur an den Grenzen zwischen Generationen auftun (Was soll das überhaupt sein, eine ‚Generation‘?) – auch Aspekte wie u.a. die geographische Herkunft, Geschlechterordnungen und Milieuzugehörigkeiten sind für die lebensweltliche Distanznahme von Bedeutung. Künstlerisch wie diskursiv werden wir uns deshalb mit Akteur*innen verschiedenen Alters der Frage widmen, inwiefern der Aspekt der soziostrukturellen Herkunft eigentlich quer liegt zur Generationszugehörigkeit und national wie international mit Exklusionsmechanismen in der Jazz-Szene einhergehen.
Liebgewonnene Bestandteile wie ‚Jazz für Kinder‘, die Verleihung des Jazznachwuchspreises der Stadt Leipzig mit Unterstützung der Marion-Ermer-Stiftung, das Stage Night Special sowie Festivalkooperationen werden natürlich weiterhin im Programm sein.