Laut & Leipzig – der Blog der Leipziger Jazztage.

I Too Am Safari

James Banner »class work« by Lukas Diller
James Banner »class work« by Lukas Diller

Man darf ruhig misstrauisch sein, denn das Reden über die Arbeiterklasse ist in den letzten Jahrzehnten oft zum hohlen Ritual erstarrt. Es herrschen Anstand und Moralismus, aber es tut sich: nichts. Doch was zuweilen zur Farce mutiert, gelingt hier hervorragend.

James Banner brachte am Dienstag „Class Work” zur Uraufführung. Die Musiker*innen, bestehend aus zwei Kontrabässen, Saxophon, Bratsche und zwei Sänger*innen, haben alle einen „Working Class“-Hintergrund und verarbeiten ihre Erfahrungen musikalisch auf der Bühne.

Banner und Nick Dunston starten mit enormen Druck ein Bass-Duett. Megan Jowett und Angelika Niescier an Bratsche und Saxophon stimmen ein. Alsbald schreien die Sänger*innen Ryan Gleave und Friede Merz dem Publikum entgegen: „I am Safari!“

Zu Beginn hat man das Gefühl sich in einem Tollhaus zu befinden. Reizüberflutung scheint zu drohen. Doch die berühmte Ordnung im Chaos ist klar erkennbar. Auch lauschen wir der Erkenntnis auf der Bühne, das zwar über – aber nicht mit einem gesprochen wird. Hilflosigkeit, Wut, Resignation sind die Folge. „And we race to the bottom.“ Die dauernde Angst um die eigene ökonomische Existenz schallt einem entgegen. Furios gestartet, soweit so gut!

Es beruhigt sich etwas. Dunston begibt sich an seine Effektgeräte.

Im ersten Moment fragt man sich: Braucht es das jetzt? Elekronische Sounds werden ja mitlerweile reflexartig in einem Großteil der improvisierten Musik eher schlecht als recht genutzt, um eine gewisse Experimentierfreude zu simulieren.

Doch mit fortschreitender Dauer wird die Relevanz dieses auch performativen Moments deutlich. Während die analoge Spielpraxis der Musizierenden Handwerk, also körperliche Arbeit ist, bildet die technologische Komponente hier das inhaltliche Gegenstück. Zu hören sind pervertierte Sounds aus Techno und Trap, Störgeräusche, sowie ein minutenlanger Radiobeitrag der leicht neben der richtigen Wellenlänge empfangen wird. Oder sind es doch Funksprüche?

Technik, die theoretisch zur Erleichterung von Arbeit und Alltag beitragen kann, dreht sich hier ins Gegenteil, wird zur Geißel, zum Auslöser von Entmachtung und Einsamkeit. Sie ist die Grundlage einer Entertainment-Industrie, im Sinne von Zuckerbrot und Peitsche. Eine mediale Bevormundung erinnert man klar.

Die Signaltöne eines Güterzugübergangs ertönen und lassen wenig Zweifel: Da fährt sie, die Zeit, die Arbeitszeit und mit ihr schwindet langsam die Möglichkeit zur Selbstermächtigung.

Rylan Gleave und Friede singen erst klagend, dann anklagend von individuellem Leid und schwellen – unterstützt von den fantastischen Instrmentalist*innen – bald zum Klagechor der Millionen an. Sie bedienen sich Rezitativformen, die uns Gefühle, Lebensumstände, manchmal nur traurig Gewöhnliches, wieder und wieder verkünden. So klingt vertonter Alltagstrott. Die sich ständig wiederholenden „Beschwerden“ der „Unterschicht“, werden hier aber nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, wie es medial seit Jahrzehnten zum guten Ton zu gehören scheint. Es sind nicht Einzelne, die sich wiederholen, es ist die Depression im Kollektiv.

„Class Work” ist auch nicht rein musikalisch, wir sehen auch Theater. Vortragsweisen einzelner, ob im Gesang oder Instrument, die alsbald zustimmend unterstützt werden. Es wird sich gegenseitig ins Wort gefallen und dann sprechen doch alle gemeinsam. Mono- und Dialog werden immer wieder zum Chor einer geteilten Lebenssituation.

Am Ende folgt noch ein erfrischend pointierter Kommentar zur Rolle des Jazz’ in dem ganzen Potpourri. Alle Beteiligten verfallend säuselnd in eine Art avantgardistischem Jazz-Bossa, ein Subgenre, das, vereinnahmt durch zahllose Easy Listening-Sampler und -Playlists, als Chiffre fürs Ungefährliche, Angepasste herhalten kann. Der Soundtrack der letzten 60 Jahre quasi, in denen „westliche“ Revolutionen entweder sexuell oder friedlich bestritten wurden. Sloterdijks Satz „Alle Wege von 68 führen letzten Endes in den Supermarkt” stimmt. Nur für mache öfter und ergiebiger als für andere.

Wenn gesungen wird: „I had herrings everyday for lunch. We were told it was nice”, muss man lächeln, schlucken, wird traurig, um sich kurz darauf zu schämen – danach ärgert sich zumindest der Verfasser dieses Textes über die eigene Dummheit. Die Parodie ist bissig, endlich mal Inhalt.

Theoretisch sind alle Stilmittel der Aufführung für sich genommen nichts Neues. Bei Konzerten ähnlicher musikalischer Gestaltung ist die Frage danach oft berechtigter Weise: „Ja, voll interressant. Und jetzt?“ Hier jedoch sind sie vortrefflich eingesetzt, wohl dosiert und dramaturgisch geschickt angeordnet. Es wird nie wichtigtuerisch oder pseudo-intellektuell. Wir kriegen immer wieder Hinweise in Musik und Wort geliefert, die uns durch das komplexe Stück helfen, doch wird keine Deutung vorgegeben. Es bleibt enormer Interpretationsspielraum, der das Werk so spannend macht. Es ist eine Bereicherung und ein aussagekräftiger Beitrag zur Klassenfrage. Ein Thema das viel zu unterbeleuchtet für seine immer gleichbleibende, schmerzende Relevanz ist.

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