Laut & Leipzig – der Blog der Leipziger Jazztage.

Musik zum Putz abkratzen

Lytton/Moberg/Wachsmann by Lukas Diller
Lytton/Moberg/Wachsmann by Lukas Diller

Free-Jazz-Trio Lytton/Moberg/Wachsmann (»The Punk & The Gaffers«) am 24.10. im Ost-Passage-Theater.

Das Free-Jazz-Trio Lytton/Moberg/Wachsmann (»The Punk & The Gaffers«) bringt Schädel im Ost-Passage-Theater zum Dröhnen. 

Mein Opa hatte einen Lieblingssatz: »Der Kopf tut weh, die Füße stinken – höchste Zeit, ein Bier zu trinken.« Das mit den Füßen hat man ja selbst in der Hand. Doch das mit dem Kopf und dem Bier nicht zwangsläufig. So fand ich mich bei dem Konzert der zwei alten und des einen jungen Herrn recht bald an der Bar mit einem Bier in der Hand – eben, weil der Kopf weh tat. 

Das Publikum des Ost-Passage Theaters war alterstechnisch ähnlich verteilt wie die Künstler auf der Bühne: Ein Drittel junge Menschen, zwei Drittel ältere Semester. Dem Motto »Talkin ’bout my Generation« wurde man hier wirklich gerecht. Die »Gaffers« (dt. Opas), die beiden betagten Jazz-Veteranen Philipp Wachsmann und Paul Lytton, standen dem 27-jährigen »Punk« Kalle Moberg in ihrer Performance in nichts nach. Nachdem das Licht gedimmt wurde, ging es rasant los. 

Drummer Lytton legte sich erstmal ein paar leere Plastikflaschen und Blechdosen auf die Toms und drückte sie energisch zusammen oder schlug mit den Sticks darauf. Die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt: Hätte man seine Hände nicht gesehen, hätte man denken können, er entschärfte gerade eine Bombe. Ich bilde mir ein, auch eine Käsereibe auf den Drums gesehen zu haben. Im Laufe des Konzerts kam dann auch noch eine Spachtel zum Einsatz, mit der auf dem Becken herumgekratzt wurde. Vielleicht hätte man mit dieser auch den verbliebenen Putz auf dem Gewölbebogen runterkratzen können – der Soundtrack für eine belastende Arbeit wurde von den drei Musikern geliefert. 

Wachsmann zupfte mal an den Saiten seiner Geige herum, mal klatschte er mit der flachen Hand auf das Holz oder schrubbte den Bogen ohne Rücksicht auf Verluste schief über die Saiten. Es mangelte keineswegs an Kreativität, möglichst schräge Töne zu produzieren. Zwischenzeitlich stöhnte es auch noch aus einem kleinen elektronischen Gerät unterhalb des Mikrofons (oder war es Wachsmann selbst? Schwer zu sagen.) Akkordeonist Moberg quälte abgehackte Töne aus seinem Instrument, die an getretene Hunde erinnerten. Es fühlte sich an, als wäre man im Soundtrack eines expressionistischen Stummfilms gelandet: Jeden Moment könnte sich der Schatten eines Mörders mit Mantel und Hut an der Leinwand abzeichnen. Im Halbdunkel des Saals: Einige betroffene Gesichter. Langeweile kam jedenfalls nicht auf. 

Den Gedanken mit dem Bier für den Kopf hatten wohl noch ein paar andere Leute. Entrüstet wirkende Rentner standen mitten im Konzert auf und schoben sich durch die Reihen in Richtung Gang. Ob sie sich ein Bier gegen den Kopfschmerz holen wollten, sich einen besseren Blick am Rande des Raums erhofften oder schlichtweg gegangen sind, vermag ich nicht zu sagen.

Nach etwa einer halben Stunde endet das Konzert mit einem wahrhaftigen Knall, als Lytton aufhörte, rumzurascheln und auf die Drums zimmerte. Dieses Mal tatsächlich mit Drumsticks und keinem Nudelholz. Nun waren alle wieder wach und der Applaus mitunter frenetisch. Die Reaktionen im wieder erleuchteten Saal lassen sich nach der Formel des Trios aufschlüsseln: zwei Drittel begeistert, ein Drittel entsetzt bis erleichtert-erheitert. Ich gehöre klar zur Minderheit.

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