Being Hipp: Das Leben ist mehr als Jazz

Vor wenigen Tagen feierte die Dokumentation »Being Hipp – First Lady of Jazz« im Rahmen der Leipziger Jazztage ihre Premiere. Der Film ist eine späte Hommage an die Leipziger Pianistin Jutta Hipp – und zugleich ein kulturhistorisches Porträt über Autonomie, künstlerische Integrität und die politischen Dimensionen eines Genres.
Anna Schmidt widmet ihre Dokumentation mit Jutta Hipp einer Frau, die es zu einer prominenten Position im Jazz-Kanon hätte bringen können, allerdings zu einem hohen Preis. Die 1925 in Leipzig geborene Pianistin war die erste deutsche Jazzmusikerin, die bei Blue Note Records unter Vertrag stand. Mitte der 1950er Jahren galt sie in New York als Sensation, bevor sie abrupt aus der Öffentlichkeit verschwand.
Nach einer knappen biografischen Einführung illustriert die Regisseurin das Leben Hipps in feinen Strichen. Zeitzeugnisse, wie Fotos aus Hipps Leben in Leipzig, Archivaufnahmen ihres Klavierspiels und O-Töne, in denen die Künstlerin selbst zu Wort kommt, ersetzen den Mythos »Jutta Hipp« allmählich durch eine nahbare, bodenständige Person. Genrekollegen wie Trompeter Thomas Heberer, Lou Donaldson oder David Amram ordnen ihr Werk ein. Dabei unterstreicht Amram, vermutlich unbewusst, einen der Gründe für Hipps Bruch mit ihrer Musikkarriere: »Alle liebten sie, nicht nur als schöne Frau.«
Being Hipp ist kein nostalgisches »Was-wäre-Wenn«, sondern eine vielstimmige Reflexion über Strukturen. Vor allem Jazzmusikerinnen und Wissenschaftlerinnen erläutern anschaulich die Faktoren, die Hipps Werdegang prägten. Darunter die Jazzforscherin und -trompeterin Ingrid Monson, Schlagzeugerin und Komponistin Terri Lyne Carrington oder Ilona Haberkamp, die Biografin, die Hipp wiederentdeckte. So beschreibt Carrington Jazz – insbesondere für Instrumentalistinnen – als Männerdomäne, in der Frauen nicht den gleichen Rückhalt oder das gleiche Netzwerk hätten. Hipps Talent als Pianistin, aber auch ihre kompromisslose Integrität, hätten sie in diesem Klima isoliert.
Der Film verknüpft Hipps Lebensweg mit dem politischen Grundtenor des Jazz. »Jazz ist von seinem Wesen her antihierarchisch und spiegelt ein Modell von Demokrati«“, erklärt Carrington Hipps Risikobereitschaft. Während des Nationalsozialismus war Jazz als »entartete Musik« verboten. In einer Tonaufnahme erinnert sich Hipp: »Ich hab‘ meiner Mutter Bücher gestohlen und sie gegen Schallplatten eingetauscht und im Radio natürlich die verbotenen Sender gehört.«
Aber Schmidt zeigt Hipp nicht nur als Musikerin, sondern als vielseitige Künstlerin. Ihr Talent fürs Malen und Zeichnen verläuft als zweiter roter Faden durch den Film. Ehemalige Kommiliton:innen beschreiben sie als »begabter als alle anderen an der Akademie«. Nach ihrer Flucht aus dem Osten, Jazz galt auch unter sowjetischer Besatzung als dekadent, lebt sie in Westdeutschland, spielt in amerikanischen Clubs, zeichnet Getränkekarten, lernt von GIs. Sie verliebt sich in einen afroamerikanischen Soldaten, wird schwanger. Ihr Sohn Lionel wird ihr weggenommen, in ein Heim gegeben, später adoptiert. Schmidt legt nahe, dass diese Erfahrung Hipps Leben und Kunst nachhaltig prägte: In ihren späten Landschaftsgemälden findet sich immer wieder, ganz im Hintergrund, eine Mutter mit Kind an der Hand.
Hipp aber bleibt pragmatisch und tapfer. In einer anderen Aufnahme erzählt sie von ihrer Abreise Richtung New York. Ihr Vater bringt sie zum Schiff, sie bittet ihn unter Tränen zu gehen, »damit ich in Ruhe in meiner Kabine weinen kann«. In New York kommt sie anfangs bei Leonard Feathers Familie unter. Später lässt er sie dann fallen, als sie sich weigert, seine Avancen zu erwidern.
Schmidt erzählt diese Episode ohne Sensationslust, aber mit unüberhörbarem Zorn. Hipps Abschied von Jazz beginnt dort, wo Integrität in einem patriarchalen System zum Karrierehindernis wird.
Die Kamera verweilt auf atmosphärischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen des New Yorker Nachtlebens: Jazzclubs, dichte Zigarettenluft, improvisierende Musiker. Jazz ist hier vor allem auch Kulisse. Hipp verliert die Freude am Spielen, greift zunehmend zur Flasche und zieht sich schließlich zurück. Der Film verweigert die tragische Zuspitzung, zeigt stattdessen eine Frau, die bewusst ein anderes Leben wählt. Sie arbeitet als Näherin in einer Textilfabrik, schätzt das verlässliche Einkommen und die Ruhe, malt, studiert erneut Kunst und gewinnt Preise als Malerin. Ihre Biografin Ilona Haberkamp sagt im Film, sie habe am Ende »zufrieden gewirkt«.
Das ist die große Stärke von Being Hipp. Anna Schmidt macht aus Hipps Biografie keine Legende, sondern ein vielschichtiges Porträt über das Recht, sich dem Narrativ des Erfolgs zu entziehen. Der Film zeigt, wie sich künstlerische Freiheit manchmal nur abseits der Bühne finden lässt.
Formal überzeugt die Dokumentation durch die kluge Verbindung von Archivmaterial, Musik und Interviews. Die Montage ist rhythmisch, nie hektisch. Zwischen Passagen und Pausen entfaltet sich eine filmische Komposition, die Hipps Kunst atmet. Die Einbindung jüngerer Musikerinnen wie Clara Haberkamp, die Hipps Stücke neu interpretiert, schlägt eine Brücke zwischen Generationen und erinnert daran, dass musikalische Erinnerung Arbeit bedeutet, auch und gerade für Frauen. Being Hipp erweist Jutta Hipp Respekt, indem er sie weder glorifiziert noch bemitleidet.
Laura Gerlach
