LEIPZIGER JAZZTAGE

Signe Emmeluth: »Ich möchte nicht, dass die Komposition die Form der Musik diktiert«

Foto: Simon Chmel
Foto: Simon Chmel

Signe Emmeluth gehört gegenwärtig zu den spannendsten Musikerinnen der jungen Improvisationsszene Europas. Seit vielen Jahren schon ist die gebürtige Dänin in Norwegen ansässig, wo sie auch ihre Band Emmeluth’s Amoeba gründete. Nach ihrem Auftritt im Rahmen der Leipziger Jazztage sprach sie mit unserer Autorin Leona Cordes über ihre Anfänge als Musikerin, den Moment auf der Bühne und kommende Projekte.

»Eins, zwei, drei!«, ruft Signe Emmeluth – und schon geht es los. In wahnwitzigem Tempo spielen die vier Musiker:innen sich durch das erste Stück. Emmeluth’s Amoeba heißt die Band: Ole Mofjell am Schlagzeug auf der einen und Christian Balvig am Klavier auf der anderen Seite der Bühne sitzen sich gegenüber, rahmen Karl Bjorå an der Gitarre und Signe Emmeluth am Saxofon ein.

Die vier befeuern sich gegenseitig, ihr Spiel strotzt vor Energie. Eine Idee jagt die nächste. Ihre Spielfreude steckt an. Unisono-Läufe, melodisch und gleichzeitig kantig, brechen schließlich auf. Nun zwitschert und schimpft Emmeluths Saxofon im Staccato-Spiel. Schlagzeug und Klavier kontrastieren mit perkussiven Impulsen. Balvig greift häufig in die Saiten des Flügels – ein schnelles tak-tak-tak erklingt. War das jetzt Klavier oder Schlagzeug? Da! – Der Trommelwirbel kommt eindeutig von der Snare-Drum. Nun steigt auch Bjorå wieder ein, kratzt mit einem Holzstab über die Gitarrensaiten.

Hohe Aufmerksamkeit ist nötig – sowohl von Seiten der Musiker:innen als auch der Zuhörenden. Wer erfassen möchte, was da genau passiert, wer sich da gerade auf wen bezieht, fühlt sich bald wie in einem Tennis-Match. Allerdings wird hier nicht nur mit einem Ball gespielt, sondern mit mehreren gleichzeitig. Die musikalischen Ideen werden hin und her gespielt. Die Energie und der Ideenreichtum der Band beeindrucken.

Emmeluth’s Amoeba spielen an diesem Abend zwei Konzerte im Horns Erben in Leipzig. Ich treffe Signe Emmeluth im Anschluss und spreche mit ihr über ihren Werdegang und ihr musikalisches Selbstverständnis.

Was denkst du über die zwei Konzerte heute Abend?

Ich fühle mich gut. Aber beide Konzerte waren sehr unterschiedlich. Das erste Konzert war etwas energetischer, kraftvoller – im zweiten war mehr Raum. Da haben wir ein paar andere Ausdrucksweisen ausprobiert, um die Musik für uns interessant zu gestalten. Also wir haben viel mit demselben Material gearbeitet, aber wir wollten nicht den direkten Weg nehmen und haben die Stücke verändert.

Foto: Simon Chmel

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Deine Band heißt Emmeluth’s Amoeba. Amöben sind ja einzellige Lebewesen. Welchen Zusammenhang siehst du zwischen Amöben und deiner Musik?

Eigentlich war es ein Zufall, dass wir den Namen gewählt haben. Ich fand Naturwissenschaften immer schon faszinierend – es ist super cool, dass all diese Dinge so winzig sein können und trotzdem so viel darin steckt.

Aber der Bandname macht im Nachhinein immer mehr Sinn. Die Band gibt es jetzt schon acht Jahre, und dadurch, dass wir schon so viel zusammen gespielt und erlebt haben, fühlt es sich an, als wenn wir mehr und mehr eins werden. Ich mag die Idee, dass es nicht einfach vier Instrumente oder vier Stimmen gibt, sondern dass wir vier verschiedene Seiten derselben Sache sind – dass wir eins sind.

Mit Emmeluth’s Amoeba improvisiert ihr ja sehr frei. Gleichzeitig kann man heraushören, dass es festgelegte Strukturen und Themen gibt, die ihr alle unisono spielt. Wie ist das Verhältnis von Improvisation und Komposition in eurer Musik?

Ich schreibe Stücke für diese Band, aber wir haben keine Setlist für Konzerte. Wir haben eine Auswahl von etwa sieben bis zehn Stücken, die wir alle gut kennen, und daraus wählen wir bei Konzerten frei aus. Aber wir begreifen das komponierte Material als veränderbar. So spielen wir manchmal nur den B-Teil eines Songs und lassen den Rest weg. Stattdessen folgt beispielsweise das Thema von Stück Nummer fünf. Es ist, wie wenn man Bausteine hat, mit denen man verschiedene Dinge kreieren kann.

Denn nur, weil etwas komponiert ist, heißt das nicht, dass es statisch ist. Man kann flexibel damit umgehen und das Material daran anpassen, welche Form die Musik annimmt. Ich möchte nicht, dass die Komposition die Form diktiert. Denn für mich sind Komposition und Improvisation in gewisser Weise gleichwertig. Der Unterschied besteht nur darin, dass manches vorgeplant ist und manches im Moment passiert. Aber grundsätzlich geht es darum, das auszudrücken, wohin die Musik einen führt.

Normalerweise haben Stücke eine bestimmte Entwicklungslinie, einen dramaturgischen Bogen. Aber manchmal bricht dieser Bogen. Dann ist dieser Teil, der normalerweise sehr stark oder sehr dicht ist, plötzlich sehr klein – was eine ganz andere Stimmung in der Musik erzeugt.

Das ist bestimmt auch sehr herausfordernd als Spielerin und verlangt euch einiges ab.

Ich finde es besonders spannend, wenn man dann wirklich in dem Moment interagieren muss. Es ist nicht immer vorhersehbar, was passiert, sondern man muss offen sein – und wir als Gruppe müssen uns abstimmen und bereit sein für das, was die Musik von uns verlangt.

Ich persönlich finde es auch interessant, nicht nur schön zu spielen, sondern auch ein bisschen hässlich oder so. Es geht ja sonst ständig um Perfektionismus – vor allem im Jazz ist das so. Da soll man immer auffällig und virtuos spielen. Ich arbeite gerne und liebe es, zu proben und Dinge zu entwickeln. Aber ich finde es irgendwie eindimensional, nur nach den besonders anspruchsvollen oder raffinierten Dingen zu streben.

Du spielst ja in vielen verschiedenen Projekten. Gibt es etwas, was dir für all deine Projekte wichtig ist?

Mir ist es sehr wichtig, dass es darin nicht um mich geht. Ich schaffe einen Rahmen, in dem wir uns alle ausdrücken können. Natürlich gibt es einige Dinge, bei denen ich gerne ganz konkret bin, aber ich versuche auch, sehr offen für die Vorschläge der anderen zu sein – und dafür, wie sie das spielen, was ich geschrieben habe. Mir ist es super wichtig, dass wir einfach zusammenkommen und gemeinsam etwas schaffen können.

Die Arbeitsweise ist bei jedem Projekt anders. Mir ist es wichtig, dass man am kreativen Teil beteiligt wird – also dass man nicht einfach nur ein Blatt Papier bekommt und dann spielt. Ich finde, das kann ein bisschen langweilig sein.

Du kommst ja ursprünglich aus Dänemark und bist dann nach der Schule in Schweden nach Norwegen gegangen zum Studieren. Was ist besonders an der Szene dort?

Ich würde sagen, die norwegische Szene ist wie für mich gemacht. Ich kann nicht wirklich viel über die dänische Szene sagen, weil ich nicht Teil davon bin. Ich bin schon 2012 aus Dänemark weggezogen. Damals konnte ich einfach keine Leute finden, wie ich sie in Schweden oder Norwegen gefunden habe. In Norwegen passiert in der Szene einfach mehr das, was mich interessiert. Es gibt Leute, die an der Schnittstelle zwischen Komposition und Improvisation arbeiten und nicht mit dem typischen traditionellen Jazz-Ausdruck spielen.

Du hast trotzdem erstmal Jazz studiert?

Ich habe am Jazz-Institut in Trondheim studiert, einer sehr offenen Hochschule. Die Dozierenden stellen ihr Wissen zur Verfügung, aber wir hatten viele Freiheiten. Wenn man eigene Sachen machen wollte, konnte man das tun. Ich hatte dort viel Zeit zu üben und an meinen eigenen Projekten zu arbeiten.

Wie bist du zur Musik gekommen?

Ich habe mit sechs Jahren angefangen, Klavier zu spielen – wie meine Schwester. Aber nach ein paar Jahren hat mir das nicht mehr so Spaß gemacht. Als ich zehn war, hatten wir einen Lehrer, der bei der Morgenversammlung in der Schule Saxofon spielte. Ich dachte: Oh, das ist toll! Also ging ich nach Hause zu meinem Vater und sagte: Ich möchte Saxofon spielen. Er meinte: Okay, cool, ich werde mit der örtlichen Musikschule sprechen. Dann fing ich an, Saxofon zu spielen – und es passte einfach sehr gut zu mir.

Als Kind bin ich schon ziemlich früh mit Theater, Oper und Konzerten in Berührung gekommen. Ich habe dann auch ziemlich früh entschieden, dass ich Musikerin werden wollte – mit 14 oder 15 Jahren. Ich dachte mir: Das ist es, was ich machen werde.

Wusstest du damals schon, dass Improvisation etwas für dich ist?

Improvisation war für mich schon immer etwas sehr Intuitives. Aber ich habe mich nie im typischen Jazz zuhause gefühlt, obwohl ich ursprünglich eine Jazz-Ausbildung habe. Ich erinnere mich daran, wie ich während eines Seminars die Musik von Ornette Coleman kennengelernt habe – und ich war so: Oh mein Gott! Das ist toll! Da habe ich gelernt, dass man in time spielen kann, ohne changes oder Ähnliches.

Ich war damals an einer Schule in Schweden. Dort habe ich bald Leute gefunden, die ähnlich dachten wie ich – und allmählich bekamen die Dinge, die ich machte, einen Sinn.

Inzwischen hast du schon einige Stipendien und Preise gewonnen, darunter den Spellemans Prisen. Inwiefern beeinflussen Förderung und Preise deine Arbeitsweise?

Ich schneide meine Musik nicht darauf zu, dass ich damit Preise gewinnen möchte – nein! Aber ein großer Vorteil in Norwegen ist, dass es ein recht gutes Kulturbudget gibt, sodass Finanzmittel für Kulturprojekte zur Verfügung stehen. Das führt dazu, dass Künstler:innen ihre Zeit und Energie ihrer künstlerischen und musikalischen Arbeit widmen können.

Wenn man acht Stunden am Tag an etwas anderem arbeiten muss und danach erst dazu kommt, zu proben oder zu komponieren, dann ist das natürlich eine ganz andere Situation. Man kann sich ja nicht einfach hinsetzen und dann kommt eine Idee. Das ist wie ein Job, zu dem man regelmäßig geht und hunderte von hässlichen Pfannkuchen macht – und dann ist plötzlich einer gut.

Dein Konzertkalender sieht momentan sehr voll aus. Wie viel Zeit bleibt da fürs Komponieren?

Das hängt wirklich davon ab, wie viele Konzerte ich spiele. Nächstes Jahr werde ich mit einem neuen Kompositionsprojekt ähnlich wie Banshee beginnen, das 2027 aufgeführt werden soll. Das wird eine Menge Zeit kosten, denn ich muss Musik für acht Leute schreiben.

Ich tendiere dazu, immer ja zu sagen, wenn ich Zeit habe – aber ich muss besser darin werden, auch mal nein zu sagen. Denn es kostet viel Zeit, Musik zu entwickeln, und ich möchte ja nicht einfach irgendetwas machen, nicht irgendwelche halben Sachen abliefern.

Man muss sich und seine Kunst selbst ernst nehmen, damit einen auch andere ernst nehmen. Für mich bedeutet das, dass ich sehr genau darauf achte, wofür ich meine Zeit verwende. Nicht, dass ich ständig etwas Sinnvolles mache – ich schaue mir auch schlechte Serien an und mache total langweilige Sachen –, aber während meiner Arbeitszeit möchte ich mich ein bisschen konzentrieren.

Foto: Simon Chmel

Was sind deine Wünsche für die Zukunft?

Ich hoffe, dass die Menschen und Politikerinnen den Wert von Kultur wieder mehr anerkennen. Wenn man auf all diese Autokratien und Diktaturen schaut, merkt man, dass sie immer zuerst Intellektuelle und Künstlerinnen ins Visier nehmen, um die Menschen zu betäuben und zum Schweigen zu bringen.

Ich denke, es ist wirklich sehr leicht zu vergessen, wie wichtig Kultur für die Gesellschaft ist. Sie wird oft vernachlässigt, und es wird so viel darüber geredet, dass die Reichen noch reicher werden müssen und all das. Ich bin ziemlich frustriert über die allgemeine gesellschaftliche Situation im Moment.

Ich hoffe wirklich sehr, dass die Menschen nicht vergessen, wie wichtig Kultur ist. Denn ich denke, sie ist etwas ganz Grundlegendes für uns als Menschen und für unser Zusammenleben in einer Gesellschaft. Wir brauchen diese Orte und Situationen, an denen wir als Menschen zusammenkommen und gemeinsam Dinge erleben können – trotz unserer Unterschiede. Ich finde das so wichtig!

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