LEIPZIGER JAZZTAGE

Lasst Karten lärmen: Ein Rückblick auf die Jazztage

Foto: Lukas Diller
Foto: Lukas Diller

Noise-Bäder und Flöten-Geplätscher, glitschige Globen und Bass-Kathedralen. Eine kleine Rückschau auf sieben von acht Festivalabenden bei den 49. Leipziger Jazztagen.

Früher schlug man sich mit der Stasi herum, im 21. Jahrhundert bemäkeln die Alteingesessenen die Plakatgestaltung. Geordneter und teurer mag die Stadt geworden sein, aber langweilig wird es nicht in Leipzig. In der 49. Ausgabe der Jazztage möchten die Macher:innen die »Topographien verschiedenster Klanglandschaften des zeitgenössischen Jazz« verorten. Klingt abstrakt, wird aber tatsächlich nahbar.

Charme statt Scham

Zum Beispiel, wenn Laura Robles und Alejandra Cárdenas gemeinsam auftreten. Angekündigt war ein Duo mit Gitarre und Cajon, aber was nach Fußgängerzonenbelästigung klingt, taucht den 150 Jahre alten Saal der Schaubühne Lindenfels tatsächlich sofort in ein schäumendes Noise-Bad. Agua Dulce kombinieren traditionelle peruanische Rhythmen mit verspulten Effekten, Analog-Synthesizer und verfremdete Gitarren mit archaischem Drumming. Eine betörende Synthese, tanzbar und trippy gleichermaßen. Die charismatische Wahlberlinerin Robles erzählt Geschichten von Pferden und Teufeln, und fordert vom Publikum »Diablo«-Rufe und Gejohle ein. Dank ihres Charmes kommt dabei kaum Mitmach-Scham auf.

Foto: Simon Chmel

Ist das noch der Strand von Lima oder die Kantine des Berghain? Niemand weiß es, Karten werden bei Agua Dulce irrelevant. Grenzen sowieso. 

Tags zuvor am selben Ort. Das Konzert von Shabaka Hutchings und Nduduzo Makhathini ist topographisch ähnlich schwer einzuordnen. Einige Male haben der Engländer und der Südafrikaner zusammengespielt, jedoch nie öffentlich als Duo. Die Weltpremiere bringt nun zwei international gefeierte, tief spirituelle Männer zusammen, die sich an diesem Oktoberabend weder Dance- noch Hard-Bop-Inspiriertem widmen, wie man’s jeweils von beiden kennt. Stattdessen lassen die zwei ein beinahe zweistündiges Impro-Set – was könnte das richtige Verb sein? – vor sich hinplätschern.

Am vertrauten Saxofon ist Shabaka kaum zu hören, dafür an verschiedenen Holzflöten, digital spielt er Vogelgeräusche und Regenwald-Atmo zu. Interessanter wird es, wenn »Britain’s hottest jazz star« (The Guardian) mit einer Mbira einen Hauch von Rhythmik produziert – ansonsten hat dieses Konzert weder Struktur noch Spannung. Selbst der sonst so stilsichere Makhathini ist sich nicht zu schade, mit Vocoder-verzerrter Stimme zu sprechsingen als wäre er bei Daft Punk. Nach 90 zähen Minuten stimmt der Pianist einen südafrikanischen Klassiker an, und das Konzert scheint auf der Zielgeraden – da ergreift Shabaka die nächste Flöte und der Rezensent die Flucht.

Foto: Simon Chmel

Foto: Simon Chmel

Abstrakter Lärm

Fürs ganz buchstäbliche Kartographieren ist Stefan Ibrahim zuständig.

Der Designer gibt den Jazztagen seit 2019 eine klare Visual Identity. Wenn man dem Flurgemurmel Glauben schenken darf, ist sein Plakatdesign manchen Festival-Veteran:innen zu schnörkellos. Doch ohne ihn wären die Leipziger ärmer. Ibrahim hält einen Vortrag über die »Vermessung des Fremden«, eine kleine, höchst unterhaltsame Geschichte der kulturellen Aneignung mit Musikvideos von Elvis bis Madonna. Highlight: Michael Jacksons Multikulti-Tanz-Clip »Black or White« – »cringe« sagt man heute dazu.

Ibrahims diesjähriges Logo, eine zerfließende Weltkugel, erinnert an die frühen Zeiten des Umwelt-Aktivismus in den Achtzigern, löst mit ihrer Glitschigkeit aber fast körperliches Unbehagen aus – anregendes Design at its best.

Noch eine Premiere bei den Jazztagen: Das Völkerschlachtdenkmal bringt als Spielstätte die Zerstörungskraft der Menschheit auf die Karte. Genau 212 Jahre, nachdem im Zuge des Befreiungskriegs gegen Napoleon fast 100.000 starben, tritt am Ort des Gemetzels im Süden Leipzigs ein norwegischer Noise-Gitarrist auf. Stian Westerhus trägt stets schwarz und klingt auch so. Passt also zu diesem 90 Meter hohen Monument, das, zugegeben, jedem Architektur- und Fantasy-Interessierten die Kinnlade herunterklappen lässt, irgendwo zwischen Pharaonengrab, Nazitempel und Herr-der-Ringe-Kathedrale.

Foto: Simon Chmel

Foto: Lukas Diller

Ob Westerhus’ etwas langatmiges Set, zwischen abstraktem Lärm und Radiohead-verwandtem Art-Pop, abseits der wuchtigen Krypta des Denkmals ähnlich intensiv gewirkt hätte? Lange Töne, Verzerrer, Bass-Gewitter mit zehn Sekunden Nachhall; erst nach einer Viertelstunde klingt die E-Gitarre auch wie eine solche. »I long for your touch«, fleht Westerhus mit Kopfstimme. Beeindruckend ist das allemal, auch dank der Videoprojektionen von Frieder Weiss.

Glitschigkeit und Lärm

Die 49. Leipziger Jazztagen gehen mit einem weiteren Unikum zu Ende: dem einzigen Deutschland-Konzert des Bobo Stenson Trios. Mehr noch als in den Vorjahren hat das Festival Debatten angestoßen, Traditionelles neben Avantgardistisches und alte Jazzcats neben aufstrebende Talente (brillant: der spannungsreiche Post-Rock des Sheen Trios um Bassklarinettistin Shabnam Parvaresh) gestellt. Die 50. Ausgabe wird ein Must-See für alle, die sich abends gern überraschen lassen. Und sei es von Glitschigkeit und Lärm.

Jan Paersch

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