Immanuel Wilkins: Musik, die bleibt

Warum hört man Jazz? Unter anderem wegen Acts wie Immanuel Wilkins. Die Musik des US-amerikanische Saxofonisten changiert zwischen innerer Ruhe und Trance. Vergangene Woche gastierte er im UT Connewitz. Unser Autor Leon Wenig war vor Ort.
Draußen herbstelt es sacht, drinnen wird gedrängelt. Vor dem ausverkauften UT Connewitz entsteht ein Schieben und Raunen, als gäbe es drinnen nicht nur gute Plätze, sondern auch Antworten auf die großen Fragen.
Bevor der erste Ton erklingt, führt ein sichtlich erfreuter Moderator in den Abend ein. Charmant und mit jener Mischung aus Ehrfurcht und Vorfreude, die einen guten Jazzabend meist auszeichnet. Dann: Ruhe.
Das Set beginnt mit »APPARITION«, einem spirituellen, fast kontemplativen Einstieg. Das Stück wirkt wie ein musikalisches Innehalten nach dem Trubel des Einlasses. Wo eben noch Gedrängel, Stimmengewirr und nervöses Platzsuchen herrschten, senkt sich nun eine fast körperlich spürbare Ruhe über den Saal. Der meditative Sound, vor allem das feine Spiel auf den Becken, schafft ein Ankommen. Nicht nur für die Musiker, sondern auch für das Publikum. Die Musik wirkt wie ein Raum, der sich öffnet, in dem man langsam zu sich kommt.

Foto: Lukas Diller
Dann der Kontrast: Tempo, Druck, Bewegung. Ein rasendes Stück, geprägt von treibendem Schlagzeug, einem kraftvoll pulsierenden Bass und flinken, dichten Linien am Saxofon. Es erinnert deutlich an klassischen Bebop, geht aber zugleich darüber hinaus. Das Stück ist keine bloße Hommage, sondern eine Weiterführung. Die vertraute Sprache der Tradition wird neu gesprochen. Immer wieder blitzt subversiv Zeitgenössisches durch. Die Musik bleibt im historischen Rahmen, aber nutzt ihn als Spielfläche für etwas Eigenes. So zeigt sich das Moderne nicht als Gegensatz, sondern als Bewegung innerhalb der Tradition. Musik auch als Erinnern.
Immer wieder sind es auch die repetitiven Motive des Pianos, die sich durch die Stücke ziehen wie Erinnerungsspuren. Sie kehren wieder, aber nicht identisch. Sie verändern sich, vertiefen sich, entwickeln Kraft durch Wiederholung.
Der unbestreitbare Höhepunkt: Ein Blues, der förmlich alles sprengt. Das Piano hämmert Minuten lang ein einziges Motiv, unerbittlich, fast tranceartig. Chorus um Chorus steigert Wilkins die Spannung, treibt die Linie weiter, ohne sie zu brechen. Man denk mehrfach: Jetzt ist der Höhepunkt erreicht. Aber das Energielevel steigt weiter. Das Schlagzeug reagiert nicht nur, es schiebt, findet immer neue Wege, die Form zu sprengen, ohne den Rahmen zu verlassen. Der ganze Raum scheint sich aufzuladen. Eine dichte, treibende Ekstase entsteht. Doch nach dieser Überhöhung kehrt plötzlich das Thema zurück. Es ist ein Moment der Befreiung: Alles fällt ab. Das Publikum wird losgelassen, fast wie in einem kollektiven Ausatmen. Zurück bleibt ein Gefühl von Erleichterung und Zufriedenheit. Und die Erinnerung daran, warum man Jazz hört.
Das gesamte Set ist geprägt von hoher Musikalität, von einem tiefen Verständnis füreinander. Keine Effekthascherei. Wilkins Spiel ist durchzogen von tiefer Emotionalität und immer verbunden mit einem Hauch von Klagen. Seine Soli entfalten sich wie organische Erzählungen und gipfeln zum Schluss in einem Höhepunkt.

Foto: Lukas Diller
Zwei Zugaben schließen sich an, beide präzise gesetzt. Zum Abschluss erklingt »Grace and Mercy«. Ein Stück, das nichts mehr beweisen muss.
Und dann geht man. Nicht einfach nach Hause, sondern hinaus mit einem Gefühl von Freiheit, innerer Ruhe, und vielleicht auch mit etwas, das sich nicht benennen lässt.
Musik, die bleibt.
