LEIPZIGER JAZZTAGE

49. Leipziger Jazztage: Warum rosaroter Brei gut schmeckt

Foto: Lukas Diller
Foto: Lukas Diller

Wofür steht der Begriff »Jazz« im Kontext eines zeitgenössischen Jazzfestivals? Unser Autor Lennart Winterkemper geht dieser Frage in seinem Essay nach. Zwischen der kritischen Lektüre von Promotexten, zahlreichen Konzertbesuchen und Publikumsgesprächen findet er Spuren von Antworten.

Vor nun gut zwei Wochen gingen die 49. Leipziger Jazztage zu Ende. Frei nach Rilke will ich noch kurz verweilen, mich umwenden vorm Abschied, und noch ein letztes Mal auf die Klanglandschaft des Festivals blicken, ihrem Echo nachlauschen. Das Motto »Mapping Music« nehme ich beim Wort und fahre mit dem Finger auf der Musiklandkarte entlang der gehörten Stationen. Was Jazz eigentlich ist und ob die diesjährigen Jazztage für einen dehnbaren oder festgezurrten Genrebegriff brauchbar sind, interessiert mich dabei weniger. Wie das Motiv dieser Ausgabe: der zerlaufende Globus, flutscht die Sache einem aus den Händen, sobald man sie zu greifen sucht. Dafür möchte ich stattdessen eher über eine Musikpraxis sprechen, für die bestimmte Ansprüche kennzeichnend sind. Die folgenden vier sind nicht alles, was diese Festivalwoche ausmachte, doch sind es Eckpunkte zur rückblickenden Orientierung in einem voranschreitenden Horizont des Jazz:

Zeitbewusstsein. Es ist in Promotexten eine leergefegte Phrase, dass im Jazz Tradition und Moderne als etwas Zukunftsfähiges zusammenkommen. Die Namen der Großen, traditionelle Stile oder auch die innovative Kraft werden verkauft. Galten noch vor einiger Zeit Standards als das verbindende Element zur Tradition, ist dies nur noch Relikt: Sam Gendel spielte am Eröffnungsabend kurz andeutend »My Favorite Things«, sonst war nichts dergleichen über die acht Tage zu hören. 

Im Gequatsche zwischen den Konzerten kann ich nicht anders, als einem leidenschaftlichen Plädoyer zuzuhören, das Jazz Wirklichkeitsnähe zuschreibt, weil gesellschaftliche Umstände, wie beispielsweise Krieg und Ungerechtigkeit, durch diese Musik dargestellt oder thematisiert würden. Klassische Musik dagegen würde nur die Gefühle ansprechen. 

Also eher ein Aktualitätsbewusstsein. Die Zeitkunst spielte einen nämlich beim Festival zurück in die Vergangenheit, welche gegenwärtige Relevanz hat. Sei es im Projekt von Jelena Kuljić das 30-jährige Ende des Bosnienkriegs, bei Karja/Renhard/Wandiger die Invasion von Russland in die Ukraine oder auch die Beleuchtung der männerdominierten Jazzwelt der 1960er im Film »Being Hipp«. Im zeitgenössischen Jazz würden aktuelle Lebenswelten hörbar gemacht, sagte Annika Sautter, die für Programmleitung und Kuratorium der Jazztage zuständig ist. Durch GANNA, Laura Robles oder auch Nduduzo Makhathini orientierten sich die Ohren in Richtung von Stimmen aus der Ukraine, Peru und Südafrika, die im Rauschen des vor allem durch die USA bestimmten Weltlärms unterzugehen drohen. Der Take des Musikerklärers aus dem Publikum, abgesehen von seinem Seitenhieb gegen den Klassikbetrieb, bringt mich also schon ein Stück weiter zum Aussichtspunkt über die Gegend der Jazztage.

Kunsthaftigkeit. Achtung, vermintes Terrain! Anderen Musiken abzusprechen, Kunst zu sein, wäre vermessen. Aber anders als bei ihnen dominierte bei den Jazztagen eine Aufführungspraxis, bei der letztlich das reine Musikhören den Schwerpunkt bilden sollte. Zwar nicht so brav wie im klassischen Konzert, doch: kein visueller Pomp und kein Rückgriff auf Choreografie. Kein Personenkult und damit Vermarktung nicht besonders zugeneigt. Stadien würden hiermit nicht gefüllt. Musik sollte nicht Happening oder Konsumprodukt sein, sondern verfolgte Anspruch auf ein Mehr.

Foto: Simon Chmel

Das Duo Witch’n‘ Monk rief am Ende seines Sets mit einem: »Fuck Instagram!« zur »Revolution« auf: Man sollte ihnen die eigene Adresse hinterlassen, damit sie ihre Konzertankündigungen zukünftig per Postkarte verschicken können. Wie ernst gemeint die ganze Sache war, blieb unklar. Jedenfalls fiel mir beim Durchstöbern meiner Insta-Stories später auf, dass sie noch fleißig ihren Besuch in der Schaubühne Lindenfels beworben hatten.

Die Liste ist lang mit Acts, die mit ihrer Musik etwas politisch, gesellschaftlich oder zwischenmenschlich erreichen wollten. Einem solchen emphatischen Anspruch gerecht werden zu können, scheitert nahezu notwendig – ihn zu haben, ist dennoch lobenswert.

Ausnahmen von den Veranstaltungen, die in warmer Beleuchtung, kleinen Spielstätten und mit einer Aura des Alternativen spielten, gab es natürlich auch: Potsa Lotsa XL konnten mit ihrem Überschuss an Geräusch, Lautstärke und einem Zuviel an vollgestrahlter Leinwand nicht wirklich überzeugen. Dagegen harmonierten bei Stian Westerhus im Völkerschlachtdenkmal Musik und ihre Visualisierung zu einer einzigartigen, synästhetischen Fügung. Schade, dass hier zu wenig Publikum seinen Weg in das Monument fand. »Jazz« hat eben für manche einen verstaubten, elitären Klang. Immerhin: Das Vorurteil, abgehoben zu sein, fand nicht wirklich seine Bestätigung. Nur beim Großmeister Dave Holland wurde absehbarerweise ein zur gleichen Zeit stattfindendes Punkkonzert, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom UT Connewitz stattfand, argwöhnisch beäugt und betuschelt.

Transkulturalität. Dass Jazz ein Produkt transkultureller Praxis und der auch damit verbundenen kulturellen Aneignung ist, ist beinahe ein zu selbstverständlicher Konsens geworden. Der Begriff ist dabei selbst umstritten, weil er eine rassistische Komponente enthalten könnte. Deshalb ist es bewundernswert, dass die Jazztage auch einen Raum für kritische Reflexion darstellten. Ein Vortrag von dem hauseigenen Grafiker Stefan Ibrahim in der »Labor«-Projektreihe der Jazztage widmete sich der Geschichte der Popkultur, die auch eine Geschichte der Aneignung und der Exotisierung anderer Musikkulturen war und teilweise noch ist.

Foto: Lukas Diller

Am Ende des Vortrags wird von einer älteren Frau Unverständnis laut über den Inhalt: Man möge doch einmal erklären, worum es denn hier genau gehe, und ihr Sitznachbar, der augenscheinlich ihr Ehemann ist, beschwert sich über das Programm(-heft) als: »rosaroter Brei«. Zugegeben: mir ist es auch schwergefallen, die Farbe des Festivals genau zu bestimmen; zwischen Flieder und Rosé kann ich mich immer noch nicht entscheiden

Kulinarische Metaphern sind für Kulturelles nichts Ungewöhnliches: man denke beispielsweise an »Salad Bowl«. Also ein eklektisches oder offenes und heterogenes Nebeneinander. Jazz war bei diesem Festival eben auch ein Schirmbegriff für sich widersprechende und unterschiedliche Musiken. Dave Holland, Aly Keïta, Stian Westerhus oder DJ Allnyx hatten musikkulturell wenig miteinander zu tun, ergaben dadurch aber umso mehr ein vielfarbiges Klangbild einer Weltlandschaft. 

Improvisation. »Dem Innovativen, Risikobehafteten und Unfertigen Spielraum geben«, war das erklärte Ziel von Das Labor. Wurde die Reihe ein Experiment getauft, treffen die drei Begriffe genau das, was Jazz und Improvisation sein können. Innovativ: Die Wahl der Instrumente (und deren Zusammensetzung) der einzelnen Acts. Von der alten Glaubensspaltung zwischen elektronischen und rein akustischen Klängen war nichts zu spüren. Beinahe alle Bands arbeiteten mit Samples und elektronischen Effekten: Agua Dulce, Arthur Kohlhaas »Feedbackloop« oder Blake Mills waren dabei bravouröse Tonangeber:innen. Risikobehaftet: Der Mut, für die Zugehörigkeit des Ausgeschlossenen oder Neuen einzutreten. Projekten wie Das Labor einen Raum zu geben oder Künstler:innen wie Stian Westerhus in das Programm aufzunehmen, schien ungewöhnlich, war aber letztlich geschicktes Gespür. Unfertig: wirkte nur die Nummer 49 auf der Schwelle zum fünfzigsten, denn einen vollendeten Abschluss gaben die beschwingenden Elektro-Bassbeats von DJ Allnyx im Werk 2. Damit bildeten sie das passende Pendant zu den dumpfen Klavierläufen im unteren Register von Eve Risser beim Eröffnungskonzert ­– der kunstvolle Rahmen für die Klanglandkarte der 49. Leipziger Jazztage.

Foto: Lukas Diller

Foto: Lukas Diller

Das Blickfeld auf eine Landschaft wird Horizont genannt. Die paradoxe Doppeldeutigkeit liegt, laut dem Sprachbild-Großmeister Hans Blumenberg darin, dass er zugleich das öffnet, was er begrenzt. Wer voranschreitet, verschiebt Grenzen und Möglichkeiten zugleich. Bei den 49. Leipziger Jazztagen war es wohl ähnlich – die Menschen, welche teilnahmen und sie prägten, verschoben den Jazz und seinen Horizont in neue Richtungen. Die Reiseverpflegung für diese Klanglandschaftstour war mit rosarotem Brei ein Ohrenschmaus.

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